Nachdem ich mich im ersten Teil meiner Start-Up-Interview-Serie mit dem Portal Careerdate beschäftigt habe, widme ich mich heute einem komplett anderen Ansatz und anderen Geschäftsmodell. Ich habe das Vergnügen Martin Becker von Viasto zu interviewen. Während Careerdate eher versucht eine Lösung für die Probleme in der Kandidaten-Beschaffung zu ermöglichen, widmet sich viasto der Recruiting-Situation und damit einhergehend auch dem Recruiting-Prozess. Auch hier kann vorab gesagt werden: Ein interessantes Unternehmen mit einer guten Geschäftsidee, welches sich sicherlich noch über viele Jahre etablieren wird.


Tim Verhoeven: Martin, erzähl uns kurz, wie es dazu kam, dass du viasto ins Leben gerufen habt. 
Martin Becker: Bevor ich auf deine Frage eingehe, lass mich kurz erklären, was viasto eigentlich genau macht: Wir haben mit der interview suite eine innovative Software für zeitversetzte Videointerviews fürs Recruiting entwickelt – genauer gesagt für die Vorauswahl von Bewerbern. Damit wird Bewerbern die Chance gegeben, einerseits einen persönlichen Eindruck von dem zukünftigen Vorgesetzten per Videomessage zu erhalten. Andererseits bekommen so auch die Personaler einen persönlichen Eindruck von den wirklichen Fähigkeiten der Bewerber und müssen sich nicht mehr nur auf den Eindruck aus dem Lebenslauf verlassen. So gewinnen beide Seiten.

Nun zu deiner ursprünglichen Frage: Wie sind wir darauf gekommen? Vor der Gründung war ich bei meinem früheren Arbeitgeber als Fachentscheider verantwortlich für die Vorauswahl von Bewerbern für verschiedene Stellen. Ich habe mich sehr geärgert, wenn Bewerber von den Unterlagen her zu passen schienen, dann im Gespräch aber schnell klargeworden ist, dass das nichts wird. Das ist zwar nicht immer passiert, aber viel zu oft. Und ich habe mich dann auch gefragt „Wäre einer der Bewerber, denen wir auf Basis der Unterlagen abgesagt haben, nicht vielleicht viel besser geeignet?“. Parallel dazu gab es neue und wirklich interessante Forschungsergebnisse, die die personalpsychologischen Gütekriterien – also Objektivität, Reliabilität, Validität – von videobasierten Auswahlprozessen untersucht haben und zu hoch interessanten Ergebnissen gekommen sind. Da wurde uns klar, hier muss etwas geschehen und dies wird nicht von den Unternehmen selbst kommen. Also haben wir uns zur Unternehmensgründung entschlossen und mit einer Diagnostik-Professorin der Freien Universität Berlin zusammen begonnen, den ersten Prototyp der interview suite zu entwickeln.

Tim Verhoeven: War es von Anfang an der Plan, die Software zu kommerzialisieren? Hattest du von Anfang an einen Business-Plan?
Martin Becker: Ja, wir haben von Anfang an gewusst, dass wir die Software kommerzialisieren werden. An der ursprünglichen Geschäftsidee hat sich also nicht viel geändert. Es gab natürlich auch einen Business Plan, allerdings war der am Anfang relativ grob. Anstelle ewig an einem theoretischen Business Plan zu schreiben haben wir lieber gleich viele Dinge direkt testen wollen, um unsere Annahmen zu bestätigen oder eben auch zu widerlegen. Uns hat beispielsweise sehr überrascht, dass Online Marketing für unsere Zielgruppe nicht funktioniert hat. Das wird sich in Zukunft hoffentlich ändern. Was hingehen ganz gut funktioniert, ist Content Marketing – sicher auch weil wirklich auch hochwertigen Content auf unserem Blog produzieren. Mit unserem Pricing haben wir anfangs auch viel probiert, bis wir unser jetziges Modell gefunden haben, mit dem wir sehr zufrieden sind.

Tim Verhoeven: Wie habt ihr euch am Anfang über die Runden gehalten insb. als erste Mitarbeiter eingestellt wurden und die ersten regelmäßigen Kosten auftraten?
Martin Becker: Glücklicherweise hatten wir für die Ausgründung ein Forschungsstipendium von der Uni, das unsere Gehälter im ersten Jahr übernommen hat. Es war zwar nicht viel, hat aber zum Leben gerecht. Und wir haben aus unseren Ersparnissen ein bisschen Eigenkapital zusammen bekommen. Das zweite Jahr war dann allerdings ziemlich hart, denn wir alle haben dramatisch unterschätzt, wie lange es doch dauert HR-Verantwortliche von neuen Prozessen zu überzeugen, selbst wenn die Vorteile auf der Hand liegen. Es kamen immer wieder die typischen Vorwände: wir haben keine Zeit; unsere Bewerber haben doch keine Webcams oder Argumente, die ich mal unter der Aussage „Das Internet wird sich eh nicht durchsetzen“ subsumieren würde. Aber natürlich kamen auch fundierte Einwände. Bedenken zum Beispiel bezüglich der Akzeptanz von Bewerbern oder die Frage, ob das Bewegtbild eines Bewerber nicht zu einer ungewollten Diskriminierung führen könnte. Diese konnten seither sowohl durch verschiedene wissenschaftliche Studien als auch durch praktische Erfahrungen unserer Kunden widerlegt werden. Seitdem wachsen wir kräftig und hauptsächlich durch die Umsätze mit unseren Kunden, die wir im letzten Jahr mehr als verdreifacht haben. Für zwei Forschungsprojekte haben wir zudem Finanzierungen der EU bzw. der Investitionsbank Berlin erhalten.

Tim Verhoeven: Welche unternehmerischen Meilensteine gab / gibt es bei euch?
Martin Becker: Der erste große Meilenstein war natürlich zahlende Kunden zu gewinnen. Wie ich oben beschrieben habe, was das nicht ganz einfach, möchte aber in diesem Zusammenhang besonders die Deutsche Telekom nennen, die von Anfang an das Potenzial der interview suite erkannt hat. Im letzten Jahr haben wir dann unseren ersten Fortune-500 Kunden außerhalb von Deutschland bekommen und sind mittlerweile Marktführer in Europa – das ist natürlich auch ein großer Meilenstein für uns, denn die Konkurrenz schläft nicht.

Tim Verhoeven: Wie grenzt ihr euch von der Konkurrenz ab?

Die interview suite aus Sicht eines Bewerbers

Martin Becker: Wir grenzen uns in drei Aspekten ganz klar von der Konkurrenz aus Übersee ab: Erstens besitzt unser Team und eben auch unser Produkt eine unglaublich hohe Expertise beim Thema Eignungsdiagnostik. Das Wort mag einen zwar erstmal sprichwörtlich erschlagen, aber letztlich geht es um die zentrale Frage in jedem Recruitingprozess: „Wie finde ich die besten Kandidaten?“, und eben nicht „Wie finde ich so effizient wie möglich irgendeinen Kandidaten?“. Diese Frage ist besonders delikat beim Einsatz von Videointerviews, denn viele unserer Wettbewerber setzen einfach nur auf den „ich will den Bewerber vorher mal gesehen haben“ Aspekt. Und das begünstigt schlechte Auswahlentscheidungen und ultimativ Diskriminierung. Die interview suite macht etwas völlig anderes – sie unterstützt eine objektive und kompetenzbasierte Ersteinschätzung der Fähigkeiten eines Bewerbers, die man eben nicht (oder nur sehr unzuverlässig) aus einem Lebenslauf erkennen kann. Und dies in einem Format, der es Personalern aufgrund der Effizienz erlaubt, auch mal 10 oder 20 Bewerber pro Stelle einzuladen. Zweitens ist die interview suite wirklich Enterprise-tauglich. Was will ich damit sagen? Dass die interview suite nicht nur im Corporate Design sondern auch beim Thema Berechtigungen an sehr unterschiedliche Konzernstrukturen einfach angepasst und in bestehende Bewerbermanagementsysteme einfach integriert werden kann. Du kannst dir sicher vorstellen, dass es besonders für große Unternehmen eine wichtige Voraussetzung ist, diese Innovation bei sich einzuführen. Und zu guter Letzt nehmen wir das Thema Datenschutz wirklich ernst und haben hier die einzige Lösung, die bei der strikten Auslegung des BDSG in Deutschland überhaupt verwendet werden darf. Das fängt damit an, dass unsere Server in einem deutschen Rechenzentrum stehen und wirklich nur wir Zugriff darauf haben. Und da hört es bei Weitem nicht auf, aber ich will dich nicht allzu sehr langweilen … 😉

Tim Verhoeven: Ich behaupte, dass es im deutschsprachigen Raum nur sehr wenige HR-Startups mit Differenzierungsfaktor gibt – ihr seid da eine sehr angenehme Ausnahme. Deckt sich das mit deinen Erfahrungen und was sind deiner Meinung nach die Gründe?

Martin Becker: Erstmal danke für die Blumen! Aber ich glaube schon, dass es in Deutschland einige echt interessante HR Startups mit Differenzierungsfaktor gibt. Ich denke da an Younect, Tandemploy oder Small-Improvements, und das sind nur die ersten drei aus Berlin die mir dazu einfallen. Für mich ist die Frage eher die: Warum setzen sich so wenige wirklich durch und werden richtig groß? Und hier glaube ich, ein gewichtiger Erklärungsansatz liegt in den deutschen HR-Abteilungen selbst. Es gibt immer noch viel zu wenige HR-Entscheider, die Risiken eingehen, die positive Dinge sehen und ihren Kopf auch mal wirklich in den Wind halten wenn’s eng wird. Denn es ist nicht innovativ, etwas auszuprobieren, was schon 100 mal gemacht wurde. Innovationen brauchen aber risikobereiten Innovatoren, um sich durchzusetzen. Mein Appell an die HR-Entscheider ist daher: Nehmt euch einen Tag pro Monat (nur einen Tag) und ladet HR Innovatoren ein, lasst euch deren Ideen und Lösungen präsentieren, und gebt ihnen ordentliches konstruktives Feedback. Und wir brauchen meiner Ansicht nach viel mehr Fokus auf die Potenziale, nicht nur auf potenzielle Probleme.

Tim Verhoeven: Gibt es Dinge, die du bei der Gründung von viasto im Nachhinein anderes machen würdest? 
Martin Becker: Nein, nicht wirklich. Es gibt natürlich ein paar Kleinigkeiten, aber im Großen und Ganzen glaube ich, dass haben da einen ganz guten Job gemacht haben. Ich kenne nur wenige andere Software-as-a-Service Unternehmen im HR Bereich, die das ohne nennenswerte externe Finanzierung innerhalb so kurzer Zeit so viel Traction bekommen haben wie wir. Und wie gesagt, wir stehen immernoch erst am Anfang der Reise!

Tim Verhoeven: Was würdest du einem Absolventen raten, der ein Startup in der HR-Branche gründen möchte?
Martin Becker:Mein erster Rat wäre: „Don’t do it.“ Und das meine ich gar nicht zynisch. Aber für einen Absolventen, der unbedingt gründen will halte ich es für sinnvoller, entweder erst in der HR-Abteilung eines Unternehmens (oder einem innovativen HR Dienstleister wie auch viasto) zu arbeiten, um relevante Erfahrungen zu sammeln, oder in einem anderen Bereich zu gründen, wo man schneller ein valides Feedback vom Markt bekommt als im HR-Bereich.