Time-to-Hire? Kenn ich schon! Alter Hut! Ich brauch mir den Artikel doch nicht durchlesen. Wie bei allen Kennzahlen liegt der Teufel jedoch im Detail und die Detailansicht macht diese Kennzahl deutlich komplizierter und komplexer… also ein waschechtes RecruitingNerd-Thema.

Wenn man sich mit Kennzahlen im Recruiting beschäftigt, kommt man zwangsläufig irgendwann an den Punkt, dass man sich mit der Interpretation dieser Kennzahlen beschäftigen wird und sich der Frage stellen wird: Sind meine Kennzahlen nun gut, mittelmäßig oder schlecht? Naheliegend ist es hier, sich Vergleichszahlen zu organisieren. Von befreundeten Unternehmen, von allumfassenden Studien, von Branchenverbändern, von Dienstleistern oder sonstigen Quellen. Ja, seit meinem Job bei Indeed bekomme ich auch täglich solche Anfragen.

So weit so gut – und auch erst einmal alles richtig so weit. Jedoch gilt bei sämtlichen Kennzahlen die Frage, warum man sie überhaupt erhebt bzw. was man mit den Zahlen konkret machen möchte. Diese Frage ist oft genug jedoch ungeklärt bzw. ungestellt und es wirkt mehr wie ein Benchmark des Benchmarks wegen. Das ist natürlich Ressourcen-Verschwendung.

Schlechtes Beispiel: Ich habe gelesen, dass die Time-to-Hire eine wichtige Kennzahl ist. Um meine Time-to-Hire einzuschätzen, versuche ich einen Benchmark zu finden.

Begründung: Die Time-to-Hire wird zum Selbstzweck, anstatt das Mittel zum Zweck.

Besseres Beispiel: Ich weiß, dass die Time-to-Hire Einfluss hat auf die Candidate Satisfaction hat. Um die Candidate Satisfaction zu verbessern, benchmarke ich mehrere Zahlen, die Einfluss darauf haben, u.a. auch die Time-to-Hire.

So weit so gut – aber das ist nur die eine Seite der Münze. Beim Vergleich mit den Kennzahlen anderer Unternehmen muss man einige Dimensionen betrachten, damit man nicht Äpfel mit Birnen vergleicht und die falschen Rückschlüsse zieht.

Vorsicht bei der Vergleichbarkeit

Bleiben wir bei der Time-to-Hire, dann gibt es sehr viele Faktoren, die diese beeinflussen beziehungsweise, die man betrachten muss. Nur, wenn man diese Faktoren einbezieht, kann man zwei Time-to-Hires miteinander vergleichen. Zumindest, wenn man dann daraus Ableitungen ziehen möchte. Ein paar der wesentlichsten Faktoren sind:

Die konkrete Definition: Meiner Erfahrung nach gibt es etwas differenzierende Definitionen der Time-to-Hire, die sich auf den Anfang und Ende der Betrachtung beziehen. Beginnt die Rechnung mit der internen Ausschreibung oder mit der externen Ausschreibung oder vielleicht schon mit dem Stellenbedarf? Alles übrigens vakanzorientierte Betrachtungsweisen, die insbesondere im High-Volume-Recruiting häufig nicht hundertprozentig passen. Daneben auch die unterschiedlichen Sichtweisen, ob die Time-to-Hire mit der Vertragsunterschrift oder mit dem ersten Arbeitstag der Person beginnt. Da wir hier keine Theorie-Vorlesung haben, werde ich mir auch verbieten, hier zu werten, was richtig oder falsch ist. Wichtig ist nur, dass wir gleiches mit gleichem vergleichen.

Die Arbeitgebermarke: Jobsuchende bewerben sich in der Regel als erstes bei den Arbeitgebern, die sie am attraktivsten sind. Bekommt man weniger oder erst später Bewerbungen, dann dauert der Einstellungsprozess länger. Daher beeinflusst die Arbeitgeberattraktivität zwangsweise auch die Time-to-Hire.

Die Zielgruppe: Je nach Zielgruppe kann sich die Time-to-Hire stark differenzieren. Wenn ich IT-Experten rekrutiere, dann kann ich mich nicht mit einem Arbeitgeber vergleichen, der primär Lagerhelfer rekrutiert. Das folgende Beispiel zeigt gut, wie man mit einem allgemeinen Vergleich der Time-to-Hire zweier Unternehmen daneben liegen kann. Beide Unternehmen haben die gleichen Zielgruppen, die sie suchen – nur in unterschiedlicher Verteilung. In Summe hat Unternehmen A die längere Time-to-Hire als Unternehmen B. Diese kommt aber nur zustanden, weil Unternehmen B weniger Ingenieurvakanzen hat und stattdessen mehr andere Vakanzen. Unternehmen B hat bei jeder einzelnen Zielgruppe eine längere Time-to-Hire, aber dies wird bei der Summenbetrachtung nicht erkenntlich.

Vergleich der Time-to-Hire zweier Arbeitgeber nach Vakanzen

Die Region: Je nach Region, Stadt oder Land gibt es unterschiedliche Arbeitsmarktdynamiken, die sich in einem unterschiedlichen Verhältnis von Arbeitgebern zu Jobsuchenden widerspiegeln. Nehmen wir das Beispiel von oben und schauen uns die Vertriebsvakanzen an. Auf dem ersten Blick könnte sich Unternehmen A als besser wahrnehmen als Unternehmen B, denn die Time-to-Hire ist in diesem Bereich 10 Tage kürzer. Wenn man sich die Verteilung nach Regionen anschaut, sieht man, dass Unternehmen A und B in den gleichen Regionen exakt die gleiche Time-to-Hire haben. Der Unterschied in Summe entsteht nur dadurch, dass Unternehmen B auch in einer weiteren Region aktiv ist.

Vergleich der Time-to-Hire zweier Arbeitgeber nach Bundesland

Die Position: Wenn man sich vergleichen möchte, dann sollte man sich einen Vergleich suchen, der ähnliche Positionen zu besetzen hat, denn die Art der Position. Selbst wenn ich die gleiche Zielgruppe suche – beispielsweise IT-ler, dann kann es auf Grund sehr unterschiedlicher Positionen (IT-Consultant, 1 Jahr befristet vs. Softwareentwickler) trotzdem schwer sein, alles zu vergleichen. Bei unserem Beispiel vergleichen wir die Zielgruppe der Ingenieure nach unterschiedlichen Positionen. Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass Unternehmen da überall die bessere Time-to-Hire hat. Im Detail sieht man jedoch, dass man nur bei vergleichbaren Positionen als Entwicklungsingenieur besser dasteht.

Vergleich der Time-to-Hire zweier Arbeitgeber nach Positionen

Kanäle: Ja, auch die Wahl der Kanäle hat eine Auswirkung auf die Vergleichbarkeit der Time-to-Hire. Klingt im ersten Moment paradox, ist aber naheliegend. Wenn im extremsten Fall eine Stelle nur intern ausgeschrieben ist, wird sich natürlich eine komplett andere Time-to-Hire ergeben, als bei anderen Kanälen. Beim Vergleich sollte man schauen, ob der grobe Kanal-Mix vergleichbar ist. Wenn viele Stellen nur intern besetzt werden, Mitarbeiter-Empfehlungen primär genutzt werden, viele Azubis übernommen wurden etc. dann sind Zahlen nur schwer vergleichbar.

Nur unter Einbeziehung dieser Dimensionen kann man die Time-to-Hire zweier oder mehrerer Unternehmen sinnvoll miteinander vergleichen. Aber was habe ich konkret davon, wenn ich jetzt sehe, dass meine Time-to-Hire länger oder kürzer ist? Das bringt uns zu zwei wichtigen Ansätzen:

Die Time-to-Hire ist die Summe aus wichtigeren Kennzahlen

Unbeachtet dessen, dass es unterschiedliche Definitionen der Time-to-Hire gibt, ist die Time-to-Hire immer die Betrachtung der Dauer eines kompletten Recruitingprozesses. Da dieser Prozess jedoch operativ aus sehr vielen verschiedenen Prozessschritten mit jeweiligen Verantwortlichen besteht, macht es Sinn diese einzelnen Prozessschritte miteinander zu vergleichen. Ein paar interessantere Kennzahlen sind:

Time-to-Publish: Insbesondere, wenn man die Time-to-Hire ab dem Moment berechnet, wenn eine Vakanz genehmigt wird, dann ist die Time-to-Publish relevant – also die Zahl, wie lange es dauert, bis die Stelle extern geschalten wurde.

Time-to-Screen: Die Zeit, bis zur ersten Selektion – in der Regel durch den Recruiting-Bereich. Wenn diese Zeit im Vergleich sehr hoch ist, kann dies auf mehrere Probleme hindeuten. Eine Überlastung, ein unklares Selektionsprofil, falsche Priorisierung etc.

Time-to-Contact: Die Zeit, bis der erste persönliche Kontakt stattfindet. Da nachgewiesen ist, dass der persönliche Kontakt den größtmöglichen Einfluss auf die Candidate Experience haben kann, ist es für eine positive Candidate Journey wichtig, Prozesse so zu definieren, dass möglichst früh persönlicher Kontakt stattfindet.

Time-to-Schedule: Oder anders gesagt – die Zeit, die es dauert, mit einem Kandidaten ein Interview oder anderen Auswahlschritt zu koordinieren. Wenn hier zu viel Zeit investiert wird, sorgt dies oft für Frust auf der anderen Seite.

Time-to-Interview: Interviews sind die häufigste Form der Personalauswahl und Interviews sind sowohl für Arbeitgeber als auch Kandidaten eines der wichtigsten Entscheidungskriterien. Daher ist Zeit, wie lange es dauert bis ein Interview stattfindet ein wichtiger Messfaktor. Erfahrungsgemäß steigt m it hoher Time-to-Interview auch die Selbstabsagequote von Kandidaten im Recruitingprozess.

Das sind nur ein paar Beispiele – idealerweise schaut man sich alle wichtigen Prozessschritte inklusive der Durchlaufzeiten an. Dann hat man eine transparente Übersicht und arbeitet mit einer praktikablen Granulatur.

Ein externer Benchmark ist nicht zwingend der beste Weg

Wenn ich Optimierungspotenziale finden möchte, dann sollte ich vielmehr ein Augenmerk darauf legen, welchen konkreten Einfluss die Time-to-Hire auf meine Prozesse und Recruiting-Ergebnisse hat. Warum sollte ich auf Biegen und Brechen versuchen, meine Time-to-Hire zu optimieren, wenn es möglicherweise keinen positiven Einfluss bei mir auf Themen wie Candidate Experience, Recruiter-Experience, Selbstabsagequote, eignungsdiagnostische Qualität etc. hat?

Im ersten Schritt würde ich immer erst mich selbst mit mir selbst benchmarken. Um interne Optimierungspotenziale zu identifizieren, kann man intern die Time-to-Hire von ähnlichen Bereichen miteinander vergleichen. Gibt es da Unterschiede, die durch das Verhalten unterschiedlicher Fachbereiche oder Recruiter zu erklären ist?

Im zweiten Schritt kann man dann einen Prozess-Piloten machen, in welchem man einen deutlich einfacheren/anderen Prozess durchführt, welcher erwartungsgemäß eine niedrigere Time-to-Hire haben sollte. Hier kann man dann analysieren, wie sich andere Kennzahlen verändern. Häufig sinkt die Selbstabsagequote mit der Time-to-Hire.

Kennzahlen sind einfach und doch komplex

Das war jetzt eine im ersten Moment relativ einfache Kennzahl und trotzdem ist es relativ komplex mit ihr zu Arbeiten, ohne größere methodische Fehler zu machen. Deswegen meine Tipps dazu:

  1. Nehmt nicht zu viele Kennzahlen als KPIs in euer Dashboard, sondern nur wenige – diese aber dann methodisch sauber.
  2. Investiert keine Zeit in Kennzahlen, die euch keinen Nutzen bringen, nur weil sie „interessant zu wissen“ wären.
  3. Auch mit viel Wissen und vielen Kennzahlen: Wir arbeiten immer mit Modellen, welche kein hundertprozentiges Abbild der Realität sind – also denkt nicht, ihr hättet ein 100%iges Abbild der Realität.

Welche Kennzahlen würden euch als nächstes interessieren, dass ich sie unter die Lupe nehme? Schreibt es hier oder als Kommentar oder meine Social Media Posts. Dieser Beitrag ist übrigens durch eine Twitter Diskussion mit Ute Neher (hier ihr Text) und Marcel Rütten beeinflusst bzw inspiriert worde.