Mal Hand aufs Herz: Ihr kennt doch auch diese Situation. Irgendjemand hat bestimmt in letzter Zeit in eurem Umfeld gefrotzelt, dass Xing doch quasi tot ist und eigentlich nur noch ein besseres Adressbuch mit Geburtstags-Erinnerungs-Funktion? Ja es kommt immer öfter vor. Diese Geschichten mehren sich. Aber ist da auch etwas dran? Und ist LinkedIn wirklich die deutlich bessere Alternative? Lest selbst – und schreibt gerne in die Kommentare, wie ihr die beiden Netzwerke wahrnehmt.

Es ist ein wenig wie ein Klassentreffen nach 10 oder 20 Jahren. Und plötzlich kommt der/die Mitschüler/in rein, bei dem/der jeder dachte: clever, sympathisch, sieht gut aus viel Potenzial – wird bestimmt ne Vorzeige-Karriere machen und alle werden neidisch sein. Und dann ist alles anders – sieht nicht mehr so gut aus, Potenzial bei weitem nicht genutzt und auch keine so tolle Karriere wie alle erwartet hatten. So ähnlich kommt es mir mit Xing vor.

Das Xing Drama in 4 Akten

Ja, es ist einfach, über Xing die Nase zu rümpfen. Schlechte Usability, Fehlerbehaftete Apps und SPAM wohin man sieht. Aber das war nicht immer so. Ich bin seit mehr als 14 Jahren Mitglied in diesem Netzwerk – in der Anfangszeit noch unter dem Namen OpenBC. Wie ist es dazu gekommen, dass sich aus diesem damals noch neuen und charmanten Netzwerk etwas entwickelt hat, bei dem immer mehr bekanntere Nutzer öffentlich mit dem Gedanken spielen, ihm den Rücken zu kehren oder zumindest nach vielen Jahren Premium auf Basis zu downgraden, könnt ihr hier lesen.

Akt 1: Klein aber fein (2003 – 2007)

Am ersten November 2003 unter dem Namen OpenBC erblickte das Business-Netzwerk, welches heute unter dem Namen Xing bekannt ist, die Welt. Für mich war es damals komplett neuartig und etwas Vergleichbares kannte ich nicht. Soziale Netzwerke waren damals nicht wirklich bekannt geschweige denn verbreitet. Facebook gab es noch nicht, LinkedIn war gerade mal ein Jahr zuvor gegründet in Kalifornien und in Deutschland gänzlich unbekannt. StudiVz wurde erst 2005 gegründet.

Man kann also sagen, dass der damalige Gründungsvater Lars Hinrichs einen Meilenstein hingelegt hat, Vorreiter war und eine lange Zeit lang mit seinem Unternehmen den Markt verändert hat.

Im Sommer 2006 wurde ich Mitglied bei OpenBC – zu dieser Zeit müssen wohl 1 – 1,5 Mio weitere Menschen Mitglied dort gewesen sein. Wir waren also noch am Anfang einer sehr starken Wachstumsphase.

Akt 2: Wachstum, neuer Name – erstes Markenproblem? (2007 – 2010)

OpenBC wurde immer größer, aber der Name war wohl nicht zugänglich genug für die breite Masse. Also wurde der bis heute gültige Name XING im Jahre 2007 aus der Wiege gehoben, kurz nach dem Börsengang 2006. Jedoch gibt es bis heute eine nicht belegbare Anekdote: Eigentlich sollte das „X“ wie im u.s.-amerikanischen üblich als „Cross“ ausgesprochen werden. Also nicht KSING, sondern KROSSING. Diese Geschichte wurde zumindest sehr häufig weitergetragen und klingt durchaus plausibel. In offiziellen Interviews wurde immer darauf Wert gelegt, dass man den Nutzern nicht vorgeben wolle, wie man den Namen ausspräche. Mag die Wahl oder die Aussprache des Namens vielleicht nicht optimal gewesen sein, so lief das Wachstum jedoch unglaublich gut. Im Jahr 2008 betrug die Anzahl der Mitlglieder bereits 7 Mio laut Geschäftsbericht.

Es waren die goldenen Jahre meiner Meinung nach. Jeder Interessantes wollte bei Xing sein. Die Community war aktiv, die Community war insbesondere noch stark in Gruppen aktiv und gerne bereit einander zu helfen. Man war noch nicht so gesättigt von der digitalen sozialen Kommunikation.

Akt 3: Expansionen – der Anfang vom Ende? (2010 – 2015)

Die erste mir bekannte größere Akquisition fand bereits im Jahr 2010 statt – und kann durchaus bis heute noch indirekt als eine exemplarische Ursache der Unzufriedenheit mit der Plattform herhalten. Xing kaufte Amiando – eine Veranstaltungs-Plattform – der Vorläufer der Xing Events.

Ein noch größerer Meilenstein war die Akquise der Arbeitgeberbewertungsplattform Kununu im Jahre 2013. Ein Kauf der damals von mir als echter Coup gefeiert wurde. Business Netzwerk und dazu noch Bewertungen – mein Datenherz schlug höher, weil ich immer noch mehr Potenzial als Negatives gesehen habe. Das sollte sich jedoch bald ändern.

Akt 4: Monetarisierung anstatt Cummunity-Fokus (2015 – heute)

Ehrlich gesagt kann man Xing gar nicht so viel vorwerfen. Sie haben ein Geschäftsmodell aufgebaut, welches sich sehr gut monetarisieren lässt und das ist am Ende des Tages natürlich auch die Aufgabe eines privatwirtschaftlichen Unternehmens. Es gab zwar hier und da durchaus laute Kritik an der Preispolitik, aber das gehört wahrscheinlich zum Business mit dazu. Der Kernfehler lag meines erachtens jedoch darin, dass man eine funktionierende Community hatte und diese zugunsten der Monetarisierung im B2B Umfeld deutlich vernachlässigt hat.

Das machte sich nicht nur im Business Netzwerk selbst bemerkbar, sondern auch bei der Top-Akquise Kununu. Der Persoblogger Stefan Scheller hat sich einmal sehr treffend zur Monetarisierung und Funktionsumfang von Kununu geäußert:

„kununu mutiert nach radikalem Update zu funktionslosem Werbelogo-Friedhof“ (2015)

„kununu verfolgt seit jeher eine anspruchsvolle Preispolitik, was auf Veranstaltungen wie BarCamps oder Workshops häufig Anlass für Kritik liefert.“ (2016)

Stefan Scheller Persoblogger

Auch bei Xing hatte sich viel getan. Die Gruppen, die ein echtes Unterscheidungsmerkmal von Xing waren, wirken verwahrlost und vor allem wie ein Werbe-Vehikel, in welchem kaum noch Austausch zwischen Experten stattfindet.

Das Thema Events…. hach Gott… da bekomme ich schon wieder Puls und stehe damit nicht alleine da. Ich bekomme täglich ungefragt und ungewollt irgendwelche 08/15-Einladungen von irgendwelchen Kontakten für irgendwelche Events, bei denen ich (außer als Speaker) noch nie (!) zugesagt habe. Aus Sicht der Monetarisierung kurzfristig toll: viel Reichweite und anscheinend gibt es Menschen, die solche Events zusagen. Die meisten Experten, die ich kenne, sind einfach nur noch genervt von diesem SPAM, den man nicht abschalten kann.

Ganz schön zusammengefasst wurde es in diesem Tweet von geschätzten Alexander Hohaus, den ich im letzten Jahr auch zu seinem Award interviewen durfte.

Wie wird es weiter gehen mit Xing?

Das fragen sich sicherlich viele Nutzer und Interessenten. Ich gehöre zu den Nutzern mit geballter Faust in der Tasche, die wahrscheinlich nicht mehr dort wären, wenn es beruflich nicht nötig wäre. Es gibt immer mehr Nutzer, die ebenso denken beziehungsweise handeln und zumindest den Premium Account kündigen.

Ein weiteres prominentes Beispiel:

Und noch eine weitere Person, die zumindest laut mit dem Gedanken spielt:

Too big to failure oder too big for a good social network?

Der Erfolg und das damit verbundene Wachstum von Xing werden Xing momentan Verhängnis. Man kann es Xing nicht übel nehmen, dass sie das Ziel hatten, möglichst viele Personen auf die Plattform zu bekommen. Jedoch folgt dann das, was vielen anderen sozialen Netzwerken passiert ist: die Relevanz für das Individuum nimmt ab. Hier ein paar der Mechanismen:

  • Sehe ich in der Timeline zu viele irrelevante Beiträge, schaue ich sie mir nicht mehr an und werde selbst nichts mehr schreiben.
  • Werde ich mit Anfragen von Dienstleistern vollgebombt, werde ich meine Nachrichten grundsätzlich ignorieren und noch weniger aktiv sein.
  • Wenn dann auch noch täglich irgendwelche lästigen Event-Einladungen kommen, ist für viele das Fass übergelaufen.

Was man Xing vorwerfen kann, ist jedoch, dass sie hier nicht gegengesteuert haben. Längst wird man täglich vollgespammt. Hier nur ein sehr kleiner Auszug aus meiner HR-Twitter-Bubble von Klagen – jedoch nicht nur auf Xing, sondern auch auf LinkedIn.

Diese Liste ließe sich fast täglich um neue Beiträge ergänzen – allein mir fehlt die Zeit und Muße.

Na gut, einer geht noch, weil er gerade von heute ist und weil es vom geschätzten Henner Knabenreich ist (gerne auch die Kommentare darunter anschauen, die durchaus erheiternd sind):

Die große Frage die bleibt: Wars das für Xing?

Kurzfristig nein. Xing hat weiter gute Zahlen, die sie veröffentlichen und die mutmaßlich weniger guten Zahlen (detaillierte Aktivitätszahlen) werden nicht veröffentlicht. Ein kluger Schachzug, denn dadurch gewinnt man Zeit. Zeit, die man nutzen kann, um grundliegende Dinge zu ändern. Die Konkurrenz schläft nicht und wächst rasant – laut dem Handelsblatt sogar schon schneller als Xing. Jedoch hat auch dieses Netzwerk mit Problemen zu kämpfen, die zum Teil gleich sind und zum Teil von komplett anderer Natur sind.

Ich höre häufiger, dass Xing noch als Sourcing Plattform für kleine und mittelständische Unternehmen passt, bei den nicht so anspruchsvollen Positionen. Das kann sicherlich eine Nische sein, jedoch bleibt die Frage, ob Xing sich so selbst auch sieht oder sich zu höherem berufen fühlt. Wir werden es sehen. Ich könnte momentan wenige Gründe finden, warum ich einem Unternehmen raten würde, dort übermäßig aktiv zu sein und warum ich einer Privatperson raten würde, dort noch einen Premium Account zu nutzen. Leider.

Ich würde mich jedoch freuen, wenn ich beim nächsten Klassentreffen Xing wiedersehen würde – aber ein Xing, was mehr am Xing von damals dran ist und wenger nah am heutigen Xing.