Ja, man hört überall, wie wichtig es doch sei, dass Bewerberinnen und Bewerber gut behandelt werden und eine positive Candidate Experience sehr wichtig sei. Um so erstaunlicher ist es, dass es kaum Diskussionen oder Praxisbeispiele über die Kennzahlen in diesem Kontext gibt – geschweige denn Standards. Damit ist die Ausgangslage deutlich anders als bei unserem letzten Deepdive, bei dem es um die Time-to-Hire ging.

Was ist Candidate Satisfaction?

Der Begriff der Candidate Satisfaction beschreibt in erster Linie die Zufriedenheit von Bewerberinnen und Bewerbern innerhalb des Bewerbungsprozesses. In manchen Definitionen geht dies auch über den Bewerbungsprozess hinaus, wie beispielsweise angelehnt an das 6-Phasen-Modell der Candidate Experience (meine erste Veröffentlichung dazu feiert dieses Jahr ihr 10-jähriges).

Warum wird Candidate Satisfaction so selten strukturiert erhoben?

Meiner Erfahrung nach gibt es nur sehr wenige Arbeitgeber, die strukturiert und permanent die Candidate Satisfaction erheben. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Die wenigsten Arbeitgeber haben sich bewusst gegen eine solche Erhebung entschieden, weil sie die Ergebnisse nicht interessant fänden. Vor mittlerweile 13 Jahren habe ich mein erstes Candidate Experience Projekt durchgeführt und angefangen, mich mit der Erhebung der Candidate Satisfaction zu beschäftigen. Die Hemmnisse bei der Einführung einer solchen Kennzahl haben sich seitdem kaum verändert. In der Recherche für mein erstes Buch habe ich meist ähnliche Szenarien vorgefunden:

  • Angst vor Transparenz: plötzlich messbar zu werden ist für viele Menschen nicht zwingend ein wünschenswerter Zustand – das trifft auch für manche Zielgruppen innerhalb des Recruitings zu. Zum Glück aber nicht auf alle.
  • Mangelndes Know-How: manchmal fehlt es schlicht weg am Know-How, um ein solches Projekt anzustoßen. Dabei ist dies alles kein Hexenwerk und die meisten Unternehmen würden das mit ein klein wenig externer Hilfe problemlos schaffen.
  • Sorge vor weiteren Prozessen: eine im ersten Moment berechtigte Sorge, die man aber meistens entkräften kann, da man hier sehr viel in bestehende Prozesse integrieren kann. Abgesehen von einem initialen Aufwand, hält sich der permanente Aufwand erst einmal in Grenzen.
  • Ein „Es-ändert-sich-eh-nichts“-Gefühl: Sehr häufig erlebe ich auch Resignation als Begründung. Man wisse ja, wo die Probleme lägen, aber es ändere sich ja trotzdem nichts. Erfahrungsgemäß ändern sich Dinge vor allem dann nicht, wenn man sie nicht schwarz-auf-weiß quantifizieren kann.
  • Nicht spannend genug: Prozessthemen klingen natürlich nicht so spannend wie eine neue tolle Image-Broschüe, ein TikTok-Video oder sonst irgendwas. Deswegen gibt es auch extrem viele Unternehmen, die durchaus die Wichtigkeit des Themas Candidate Satisfaction verstanden haben, aber es dann doch runter priorisieren.

Welchen Mehrwert hat es, die Candidate Satisfaction zu erfassen?

Die Candidate Satisfaction ist einer der besten Indikatoren für Probleme im Prozess. Zufriedene Kandidatinnen und Kandidaten sagen weniger häufig den Prozess ab, was sowohl die Time-to-Hire als auch die Cost-per-Hire und ggf. die Hiring-Quality beeinflusst.

Durch Prozessanalysen und Korrelationsanalysen kann man recht gut zeigen, welcher Kontaktpunkt welchen Einfluss auf die Candidate Satisfaction hat. Hier an einer beispielhaften Analyse aus 2018 gezeigt. Der hier genannte CNPS (Candidate Net Promoter Score) wird weiter unten erklärt.

Korrelationskoeffizient r zwischen CNPS und Kontaktpunkt (eigene Erhebung 2018)

Das Ergebnis ist nicht verwunderlich: Persönliche Kontakte haben größeren Einfluss auf die Zufriedenheit als weniger persönliche Kontakte. Bei den weiteren Dimensionen ist es auch nicht verwunderlich, dass insbesondere Prozessdauer und Transparenz im Bewerbungsprozess besonders stark mit der Zufriedenheit zusammenhängen.

Korrelationskoeffizient r zwischen CNPS und Dimensionen im Auswahlprozess (eigene Erhebung 2018)

Eine positive Candidate Experience stärk in hohem Maße die Wahrnehmung der Arbeitgebermarke. Damit kann eine gute Candidate Experience auch einen positiven Einfluss auf die Gehaltsverhandlung haben, da Jobsuchende eher bereit sind für ein etwas geringeres Gehalt zu starten, wenn die Arbeitgebermarke sie überzeugt.

Der Klassiker in diesem Kontext: Der Candidate Net Promoter Score

Die gängigste Methode global ist die Adaption des Net Promoter Scores auf den Recruitingprozess. Er basiert auf dem Net Promoter Score – einer Messgröße, welche ursprüglich aus dem klassischen Marketing kommt und stark mit dem Gesamtefolg eines Unternehmens korreliert. Er zeichnet sich vor allem durch seine Einfachheit aus. Im Recruiting-Kontext spricht man vom Candidate Net Promoter Score (kurz CNPS) Hier kurz erklärt in einem einfachen Schaubild aus meinem Grundlagen-Candidate-Experience-Artikel:

Vorgehen Candidate Net Promoter Score
Vorgehen Candidate Net Promoter Score, eigene Visualisierung

Klingt neu? Nööööö. Auch hier habe ich schon vor 10 Jahren – also im Februar 2012 (!) über dieses Thema geschrieben.

Aus Gründen der Vollständigkeit gibt es noch die Möglichkeit der „Mystery Bewerber“. Hierbei handelt es sich um extra dafür engagierte Personen, die sich bewerben mit dem Ziel, den Bewerbungsprozess genau zu analysieren. Dies ist aus meiner Sicht eine sehr spannende Ergänzung mit qualitativer Aussagekraft.

Grenzen der Vergleichbarkeit

Ähnlich wie schon bei der Time-to-Hire gilt auch bei der Candidate Satisfaction – seid vorsichtig, wenn ihr eure Kennzahlen mit denen eines anderen Unternehmens vergleicht. Viel zu leicht vergleicht man hier Äpfel mit Birnen, da es diverse Einflussfaktoren gibt, die hier unterschiedliche Ergebnisse erklären. Die wichtigsten Einflussfaktoren sehen wir hier:

Befragungs-Stichprobe

Wer wird alles befragt? Werden alle Nutzer befragt? Nur eine Stichprobe? Nur eine spezielle Zielgruppe? All das sind unterschiedliche Ansätze und führen zu einer komplizierten Vergleichbarkeit. Wenn man beispielweise das Ziel hat, seine Prozesse auf Candidate Satisfaction zu überprüfen, dann reicht es aus, wenn man nur diejenigen befragt, die mindestens einen Prozessschritt durchlaufen haben.

End-Status der Befragten

Insbesondere bei einer retrospektiven Befragung sieht man sehr deutlich, dass Kandidatinnen und Kandidaten sehr abhängig von ihrem Prozessendstatus bewerten. Das bedeutet einfach gesagt: Wird einem Bewerber abgesagt, wird er den Prozess schlechter bewerten, als ein Bewerber, der eine Zusage bekommen hat. In einer kleinen Feldstudie habe ich mich diesem Phänomen etwas näher gewidmet, um die Unterschiede quantifizieren zu können.

Wenig verwunderlich, waren Personen, die eingestellt worden sind immer deutlich zufriedener, alsdiejenigen, denen abgesagt wurde. Dies sollte man beachten bei der Vergleichbarkeit dieser Größe, denn sonst kann es möglicherweise zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, auf Grund von einer höheren Anzahl von Eistellungen.

Durchschnittliche Abweichung des CNPS nach Endzustand der Bewerbung (eigene Erhebung 2018)

Messzeitpunkt

Grundsätzlich gibt es zwei Ansätze, wie man die Candidate Satisfaction messen kann (oder einer Mischung aus beiden Ansätzen).

  • Live: Hierbei wird möglichst innerhalb des Prozessschrittes die Zufriedenheit damit abgefragt. Popups auf der Karriereseite, Emails nach jedem Prozessschritt (beispielsweise nach dem Interview, bevor es die Ergebnisse gibt). Der Vorteil ist, dass die Einschätzung frisch und zeitlich unverfälscht ist. Der Nachteil liegt zum einen daran, dass es viele Befragungen gibt und diese selbst ggf. die Candidate Satisfaction negativ beeinflussen. Daneben gibt es den Verzerrungseffekt der sozialen Erwünschtheit, der bei einer solchen Frage auftreten kann, wenn man als Bewerberin oder Bewerber davon ausgeht, dass das eigene Antwortverhalten ggf. das Ergebnis des Prozesses beeinflussen kann.
  • Retrospektiv: Hierbei werden am Ende des Prozesses einzelne Prozesse in der Rückbetrachtung befragt. Diese Variante ist relativ unkompliziert umsetzbar, hat aber zwei Nachteile, die man berücksichtigen sollte. Erstens kann es bei längerem zeitlichen Abstand auch hier zu Verzerrungseffekten führen, da man sich nicht mehr so gut an alles aus der Vergangenheit erinnert. Zweitens kann das Endergebnis des Prozesses dazu führen, dass man einzelne Prozessschritte im Nachhinein anders bewertet, als man sie im Prozess bewertet hätte.

Ich habe schon mit beiden Varianten gearbeitet und ich würde persönlich nicht eine Variante als besser als die andere einstufen. Eine retrospektive Befragung ist jedoch in den meisten Fällen einfacher umzusetzen und ist daher häufig eher meine Empfehlung. Da beide Ansätze unterschiedliche Einschränkungen haben und unterschiedliche Verzerrungseffekte erzeugen, sollte man nur gleiche Ansätze miteinander vergleichen.

Zielgruppe

Unterschiedliche Zielgruppen haben unterschiedliche Vorstellungen und Erwartungen an ein Bewerbungsprozesse, daher sind diese auch nur bedingt miteinander vergleichbar.

Kulturelle Unterschiede:

Es gibt starke kulturelle Unterschiede im Antwortverhalten bei Methoden, wie beim Net Promoter Score (aber nicht nur dort). Das Qualtrics Institut hat eine globale Befragung gemacht, um zu sehen, welche Abstimmungsmuster zustande kommen, wenn man eine Firma mag oder eine Firma nicht mag. Die Unterschiede waren, wie zu erwarten war, sehr groß:

Durchschnittliche Bewertung des NPS nach Land bei positiver oder negativer Assoziation – Orignal erstellt vom Qualtrics Institut

Man erkennt kulturell bedingt unterschiedliche Antwortmuster. Während man sich in Südkorea und Japan mit „Empfehlungen“ zurückhält, ist man beispielsweise in Indien deutlich weniger zurückhaltend in dieser Hinsicht. In internationalen Vergleichen und auch in anderen Studien sieht man bei Deutschland, dass man dort in der Regel weniger zu extrem positiven Ausprägungen neigt, weswegen der Net Promoter Score häufig negativer ausfällt als beispielsweise in den USA. Man sollte also den CNPS nicht zwischen unterschiedlichen Ländern vergleichen.

In Summe sehen wir auch beim Thema Candidate Satisfaction vorsichtig mit einem pauschalen externen Vergleich sein sollten, auch wenn ein standardisierter Wert wie der CNPS dazu einlädt. Man sollte immer schauen, dass man gleiches mit gleichem vergleicht.

Es ist einfach. Es ist wichtig. Packen wir es an!

Kaum eine Kennzahl gibt so schnell so konkrete Optimierungspotenziale, wie die Candidate Satisfaction. Eine strukturierte Auswertung zu starten ist denkbar einfach und man benötigt nicht viel Ressourcen. Man muss einen Fragebogen konzipieren und in einem (ggf. auch kostenlosen) Umfragetool erstellen und dann in die Standardkommunikation der letzten Email je nach Prozessende (Absage-Email o.ä.) einbinden. Alternativ verschickt man eine Extra-Mail nach der Prozess-End-Mail.

Es gibt keinen Grund, nicht damit anzufangen. Insbesondere in der aktuellen Arbeitsmarktsituation ist es fahrlässig, diesen wichtigen Faktor außen vor zu lassen. Ob live, retrospektiv oder eine Mischung aus beidem oder ob noch zusätzlich Mystery Bewerber engagiert werden – das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass man anfängt. Alles andere ist fahrlässig.

Dies ist der zweite Artikel meiner Reihe „Deepdive Recruiting Kennzahlen“. Bisher erschienen sind:

Time to Hire (16.01.2022)

Candidate Satisfaction (01.02.2022)