Eigentlich müsste man bei LinkedIn jeden Tag mit guter Laune zur Arbeit gehen und endlos zufrieden in die Zukunft blicken. Schließlich habe ich im letzten Beitrag meine Sicht gezeigt, dass der lokale Wettbewerber Xing seit geraumer Zeit immer mehr an Boden verliert und immer mehr User vergrault – ob nun in Form von Account-Auflösung oder in Form von Deaktivität. Wie in einem Fußballspiel, bei dem die gegnerische Manschaft ein Eigentor nach dem anderen schießt. Ob dies der Tatsache entspricht… lesen wir hier:

Die Geburtsstunde von LinkedIn

Die Geburtsstunde von LinkedIn war im Dezember 2002 – also mehr oder weniger zur gleichen Zeit, als OpenBC gegründet wurde. Damals jedoch in den USA und für eine längere Zeit komplett unter meinem Radar. Erst deutlich später kam ich in den Kontakt mit LinkedIn. Ich bin mir nicht mehr sicher, wann ich mein Konto bei LinkedIn eröffnet habe, aber es wird wahrscheinlich um den Launch der deutschsprachigen Version gewesen sein. (wenn jemand weiss, wie man das rekonstruieren kann – sagt gerne bescheid)

Wenn ich an die Anfänge meiner Karriere zurückdenke, dann stand LinkedIn anfangs vor allem für Internationalität. Deutsche Talente spricht man eher auf Xing an und internationale Talente eher auf LinkedIn – so war die gängige und zu dem Zeitpunkt auch zutreffende Einschätzung. Den ersten Schritt in Richtung Ausbreitung auf dem deutschsprachigen Markt begann im Jahre 2009, als die deutschsprachige Version von LinkedIn live ging.

Seit dem 08. Dezember 2016 gehört LinkedIn zu Microsoft. Ein Kauf, bei dem ich mir schon ein wenig die Augen gerieben habe und den ich sehr positiv bewerte. Eines der größten Tech-Unternehmen der Welt kauf einen Recruiting-Player (das ist LinkedIn am Ende des Tages in meinen Augen). Hier profitierte LinkedIn in meiner Wahrnehmung, denn Microsoft konnte bei einem wesentlichen Punkt Know-How mitgeben: Lokale Sales-Expertise. Die ersten Gespräche als Recruitingleiter mit Ansprechpartnern dort war… nennen wir es mal …. speziell. Auch das Pricing war für den deutschen Markt zu undurchsichtig. Das wurde mit der Zeit jedoch besser – ich mutmaße, dass hier die Microsoft Expertise hilfreich war.

Der Status Quo

seit 2-3 Jahren sehe ich jedoch einen Trend auf LinkedIn, der mich – und anscheinend viele andere – irritiert. “Instagram for business” – so oder so ähnlich, lässt sich das aktuelle Dilemma bei LinkedIn sehr gut zusammenfassen. Besonders gut hat dies dieser Zeit-Artikel zusammengefasst.

Hier sehe ich auch den stärksten Widerspruch in der aktuellen Ausrichtung: Gestartet als seriöses Netzwerk mit viel gutem Content und klarem business-Fokus bewegt sich LinkedIn mittlerweile stark in einer andere Richtung. Zwar grundsätzlich immer noch seriös, aber Business tritt langsam in den Hintergrund. Urlaubsfotos, endloses getagge, stärkerer Selfie-Fokus, irgendwelche “total originellen” Zitat-Posts, Clickbaits – die Liste ließe sich noch erweitern.

Das reicht noch nicht? Hier noch ein paar weitere Beispiele – entweder direkt aus meinem Netzwerk oder sehr schnell in den Twitter-Charts zu finden über Suchfunktion:

Anmachen:

Exemplarisch dieser Tweet – aber es kommt anscheinend häufiger vor (auch im deutschsprachigen Bereich), dass LinkedIn von manchen Menschen falschverstanden als Flirt-Kanal genutzt wird.

Fußballer und Fußballvereine:

Ob nun Fußballer, Fußballvereine oder ehemalige Fußballer und Funktionäre – mittlerweile hat jeder LinkedIn für sich entdeckt. Was das mit der Idee des Business-Netzwerks zu tun hat? Das kann ich auch nicht sagen. Für mich wirkt es (noch) befremdlich – selbst bei meinem Herzensverein.

Politiker und Parteien:

Auch viele Polikter, Parteien und Ex-Politiker tummeln sich auf LinkedIn – primär um die eigene politische Meinung zu verteilen. Das fürt dazu, dass sich auch der Ton entsprechend ändert in den Diskussionen. Gleichzeitig finden auf LinkedIn auch immer mehr politische Diskussionen statt, die wenig zu tun haben mit der ursprünglichen Ausrichtung des Netzwerks.

Ist das denn alles überhaupt verwerflich? Nein – es ist wahrscheinlich aus Sicht des business developments von LinkedIn der nachvollziehbare Versuch, Elemente und Inhalte von anderen Netzwerken, wie beispielsweise Instagram bei LinkedIn zu integrieren. 

Ich empfinde es dadurch momentan deutlich oberflächlicher – genau wie Instagram und deutlich mehr auf Selbstdarstellung ausgerichtet auch genau wie Instagram. Da generiert die attraktive, keck in die Kamera schauende junge Dame mit vergleichsweise unspannenden Inhalten – aber eben mit Lächel-Selfie deutlich mehr Reichweite als die ausgewiesene Expertin mit einem spannenden und angenehm kontroversem Thema, die das Thema in den Fokus stellt und nicht Selfies.

Auf der anderen Seite muss man sagen, dass LinkedIn sehr viel richtig macht. Im Gegensatz zu Xing, welches immer mehr bei mir verwahrlost, bin ich fast jeden Tag aktiv bei LinkedIn. Auch, weil der SPAM Anteil bei LinkedIn noch (!) geringer ist als bei Xing und gleichzeitig LinkedIn in den Kernelementen eine tolle Usability hat. Ich schreibe hier ganz bewusst von den „Kernelementen“, denn wenn man sich mal auf die Suche nach manch einer anderen Funktion macht, dann ist die Usability ein Grauen. Da gab es schon Meetings mit Bekannten, bei denen wir zu zweit oder dritt mehr als eine halbe Stunde versucht haben ein Feature zu finden. Dieser krasse Gegenssatz zwischen Kernelementen und Neben-Features ist auch ein Widerspruch – zumindest aus Sicht der User Experience.

Der Ausblick in die Zukunft

Zukünftig wird LinkedIn mit der gleichen SPAM Problematik zu kämpfen haben, wie es Xing längst hat, denn auch hier werden immer mehr Beschwerden laut über die ewig gleichen nervigen Anschreiben.

Wenn wir schon in die Zukunft blicken, bleibt vor allem die Frage: Was will LinkedIn werden? Business Network oder Social-Media-Reichweite-um-jeden-Preis-Instagram-2.0? Wofür auch immer sie sich entscheiden – sie werden erfolgreich sein und zwar kurz- und mittelfristig. Der eigentliche Fokus auf Business wird wohl immer geringer werden.

Hier sehen wir viele Parallelen zu Xing. Erst kam das Wachstum – mit dem Wachstum veränderte sich das Netzwerk, die Struktur und dessen Inhalte. Ok, die Instagramisierung ist bei LinkedIn deutlich stärker zu sehen, als bei Xing – aber die Probleme sind ähnlich.

Gleichzeitig hat LinkedIn hin und wieder negative Schlagzeilen zum Thema Datenschutz. Mich verwundert es außerordentlich, dass es in Deutschland verhältnismäßig geringes Medien-Echo gab, als vor kurzem bekannt wurde, dass die Daten von 700 Mio. LinkedIn Nutzern gehackt und zum Verkauf angeboten wurden. Woher die Daten letztendlich kamen und ob sie beispielsweise aus einem vorherigen Hack stammten, ist unklar. In Zeiten, in denen Datenschutz immer wichtiger wird, führen solche Meldungen jedoch zu Vertrauensverlust.

Was bedeutet dies für Xing?

Nach meinem letzten Text war ich überzeugt, dass der Wettkampf zwischen LinkedIn und Xing eindeutig entschieden war. Jedoch macht LinkedIn gerade alles, um Xing im Rennen zu halten. Ich bin weiterhin kaum noch auf Xing aktiv und dahingegen deutlich häufiger bei LinkedIn. Jedoch nervt mich das „neue“ LinkedIn immer mehr – und ich bin mit dieser Situation nicht alleine. Daher würde ich Xing durchaus noch zutrauen, dass es aufholen kann. Die Chancen sind da. Es bleibt spannend in den kommenden Jahren. Kommt Xing noch einmal aus der gefühlten Abwärtsspirale nach oben? Viele würden es sich wünschen.

// Disclaimer: Ich beziehe mich bei der Einschätzung in erster Linie auf meine Wahrnehmung der Situation im DACH-Markt. Wie LinkedIn in anderen Ländern und Kulturkreisen funktioniert und auch wie das Nutzerverhalten dort ist (Stichwort Spam) fließt hier nicht mit ein.