Das Thema Video-Interview als Recruiting-Instrument ist schon seit einigen Jahren bei vielen Unternehmen auf der To-Do-Liste und ein paar wenige Unternehmen nutzen Video-Interviews schon mehr oder weniger flächendeckend. Die Vorteile sind geradezu erdrückend auf den ersten Blick. Vergleicht man es mit einem Vorstellungsgespräch vor Ort, dann ist es vor allem deutlich günstiger. Vergleicht man es mit einem Telefoninterview, dann hat man durch das Video-Interview den Vorteil, dass man die Person inkl. deren kompletter Mimik sieht und nicht nur die Stimme hört. Dazu gibt es bei manchen Anbietern auch die Möglichkeit zeitversetzte Interviews durchzuführen. Alles in allem kann man nur sagen „Toll, toll, toll…“.

Aber: Aus meiner Wahrnehmung heraus, werden bei der Überlegung, ob ein Video-Interview-Tool eine sinnvolle Ergänzung der bisherigen Recruiting-Instrumente ist, häufig noch ein paar Dinge unterschlagen. Die folgenden Punkte sind weniger als Belehrung zu verstehen, sondern sollen Denkanstöße liefern, wenn man sich überlegt, ob man Video-Interviews bei sich im Unternehmen einführen möchte.

1. Infrastruktur beim Bewerber:
Im Zweifelsfall gibt es drei mögliche Problemquellen, die bedacht werden sollten. Hardware, Software und Internetverbindung. Klappt nur eine der drei Punkte beim Bewerber nicht oder unzureichend, dann ist das Video-Interview unmöglich und Frust vorprogrammiert. Wenn man in einem großen Ballungszentrum wohnt, dann kann man es sich kaum vorstellen, aber es gibt noch genug Orte in Deutschland, die kein Breitband-Internet haben. Genau so sieht es mit einer passablen Webcam aus – nicht jeder hat diese und nicht jeder ist den Umgang damit gewohnt.Wie möchte man damit umgehen, wenn der Wunsch-Bewerber keine Webcam hat?

Mein Tipp Nummer 1: Alternativen suchen, wenn ein Teil der Infrastruktur nicht klappen sollte / verfügbar ist.

2. Diagnostische Verzerrung:

Ein Video-Interview ist kein Vor-Ort-Interview! Deswegen müssen dafür auch andere Rahmenbedingungen für Bewertungen geschaffen werden. Aus der Perspektive der Eignungsdiagnostik ist jedes Recruiting-Instrument ein neues Szenario, bei welchem andere Regeln gelten.

Viele Verhaltensweisen können dabei missinterpretiert werden, wie beispielsweise mangelnder Augenkontakt: In einem Vor-Ort-Gespräch würden wahrscheinlich Interpretationen wie „schweift gedanklich ab“; „ist unsicher“ oder „hat keine gute Gesprächsführung“ gemacht werden. Kurz um: Man ist es gewohnt, dass man sich (uns sei es nur aus Höflichkeit) anschaut, wenn man miteinander redet und nimmt ein nicht-anschauen wahrscheinlich negativ wahr. Bei Video-Interviews ist dies jedoch häufig vorprogrammiert – auch bei Leuten, die immer darauf achten, ihr Gegenüber bei einem Gespräch zu fokussieren.

Warum? Ganz einfach: Schaue ich die Leute auf dem Bildschirm an (was eigentlich normal wäre), dann schaue ich nicht in die Kamera. Schaue ich in die Kamera, dann kann ich nicht auf den Bildschirm schauen.

Mein Tipp Nummer 2: Die Interviewer müssen für die neue Situation geschult werden.

3. Einbindung in den kompletten Prozess:
Ein Video-Interview hat ja einen Hauch von Futurismus für mich. Es wirkt modern, einfach, schnell und vielleicht auch ein wenig hip. Man setzt damit (un-)bewusst eine gewisse Erwartungshaltung in Gang, die man im weiteren Verlauf tunlichst nicht wieder enttäuschen sollte.

Die Fallhöhe ist nunmal deutlich höher, wenn jemand mit der Erwartung zu einem Vorstellungsgespräch kommt, dass das Unternehmen total modern und hip ist und dann den grau-bürokratischen Bewerbungs-Alltag sieht.

Mein Tipp Nummer 3: Die Wirkung des Videointerviews muss mit der Wirkung des kompletten Recruiting-Prozesses harmonisiert werden…  

Stichwort Candidate Experience und so…

In diesem Sinne: Allen noch einen schönen Mai-Feiertag und wer weil’s so schön war, hier noch ein paar Schmankerl – unter dem Motto „Ich glaub ich steh im Walde“: