In meinem heutigen Interview habe ich das Vergnügen Jessica Lingenfelder vom frisch gegründeten Verein recruitingrebels e.V. zu interviewen, bei deren Gründung ich Ende 2019 dabei sein durfte und deren Inhalte ich auch sehr stark unterstütze. Jessica ist erste Vorsitzende dieses Vereins, der sich das Ziel gesetzt hat, das Recruiting besser zu machen. Ein nobles Vorhaben, welches wahrscheinlich nicht nur ich sinnvoll finde, sondern die meisten anderen Blogger/innen im Recruiting-Kosmos. Parallel zu dem Interview habe ich auch eine eigene Rubrik und eigene Website für die recruitingrebels auf meinem Blog zur Verfügung gestellt.

Tim Verhoeven: Hallo Jessica, vielen Dank, dass du dir Zeit für dieses Interview nimmst. Stell dich bitte kurz meinen Leserinnen und Lesern vor, falls dich jemand noch nicht kennt.

Jessica Lingenfelder: Sehr gerne, Tim. Mein Name ist Jessica Lingenfelder. Ich verantworte als HR Managerin alle Personalthemen beim High-Tech Gründerfonds in Bonn. Vom Recruiting, Employer Branding über Mitarbeiterentwicklung bis zum Retention Management.

Bevor ich diese Aufgabe 2018 übernommen habe, war ich unter anderem für den Aufbau und die Weiterentwicklung des Recruitings bei einem mittelständischen IT Dienstleister zuständig. Meine ersten beruflichen Schritte habe ich in der Personalberatung gemacht und mich hier 7 Jahre intensiv mit dem Thema Recruiting auseinandergesetzt.

Das Thema Personalauswahl begleitet mich nun also schon über 10 Jahre.  

Tim: Im Oktober habt ihr in Stuttgart die recruitingrebels gegründet. Was genau hat es mit diesem Verein auf sich und warum habt ihr ihn gegründet?

Jessica: Personalauswahl ist eine HR-Kernkompetenz. Sie gehört ins Rampenlicht. Und mit ihr zusammen all die Tools und Verfahren, die eine gute Personalauswahl unterstützen können.

Es kann eben nicht jeder „Recruiting“, nur weil er es schon soundsoviele Jahre macht. Aber jeder der möchte, kann es lernen. Und es hört ja nicht im Recruiting auf – auch in der Personalentwicklung braucht es valide Tools um Auswahl- und Entwicklungsverfahren bestmöglich zu gestalten.

Hierfür möchten wir eine Plattform schaffen und Wissenschaft und Praxis näher zusammenbringen.

Tim: Bei eurem Namen hätte ich etwas mehr Rebellentum vorgestellt – wie passt der Name zu euren Vorhaben?

Jessica:  Wir erleben, dass stetig neue Feuerwerke im Recruiting, der Personalauswahl und Entwicklung gezündet werden – und am Ende bleibt oft bloß heiße Luft, wenn man genauer hinschaut.

Wir wollen dafür Aufmerksamkeit schaffen und die Kolleginnen und Kollegen ermutigen nicht jeden Trend – nur weil es jetzt alle machen / es bunt ist und leuchtet / usw. – mitzumachen sondern genau zu hinterfragen: Nach welchen Gütekriterien wurde ein Verfahren konzipiert? Bringt mir Tool XY wirklich etwas – oder ist es einfach nur en Vogue weil es z.B. ein gutes Marketing hat. Wir rebellieren für mehr Vernunft und weniger Bauchgefühl.

Tim: Es gibt doch schon endlos viele Vereine, Organisationen, Gremien und Veranstaltungen – warum habt ihr nicht einfach eine Fachgruppe im DGFP, BPM o.ä. gegründet?

Jessica: Gute Personalauswahl ist unser Markenkern, unser Alleinstellungsmerkmal. Damit füllen wir eine Lücke. Wir werden Aufmerksamkeit für gute Personalauswahl schaffen. Das geht nur durch Miteinanderreden auf Augenhöhe.

Wir richten uns konsequent an guter Personalauswahl aus. Wir sind achtsam bei unserem Claim und werden nicht Moden nachjagen. Wir passen nicht als Abteilung zu den Arrivierten, die du genannt hast, Tim. Wir sind da zu widerborstig, zu wendig, zu rebellisch eben. Wir haben so auch enorme Anziehungskraft in nicht einmal 3 Monaten entwickelt. Wir haben Starterfolge erzielt: Prof. Kanning hat zu unserer Gründung aufgerufen. Prof. Kersting hat die recruitingrebels als „gute Idee“ bezeichnet. Und schau dir doch nur mal an, wer unsere Gründungsmitglieder sind und wer alles in unsere Gruppe „recruitingrebels“ auf LinkedIn ist: das ist ein Teil der deutschen Recruiting-Elite und die sieht sich nicht als Arbeitskreis oder Fachgruppe.

Tim:  Was sind eure nächsten Ziele bzw. wo seht ihr den größten Handlungsbedarf?

Jessica: HR und Fachbereiche sollen erkennen, wie spannend und hilfreich die Wissenschaft in Sachen Recruiting und Auswahlverfahren ist. Intelligenztests, strukturierte Interviews oder gut konzipierte Assessment Center (um nur einige zu nennen) kann jedes Unternehmen für sich nutzbar machen.

Gute Personalwahl muss nicht teuer sein, man muss nur wissen wie und bereit sein über den Tellerrand zu schauen. Heute erleben wir sowohl, dass Menschen im Prozess scheitern, weil die Bewerbung (formal oder inhaltlich) nicht der Vorstellung des Entscheiders entspricht, als auch, dass Einstellungen gemacht werden, weil in dem Bereich ein Mangel herrscht und man froh ist, jemanden gefunden zu haben, der schonmal „sowas“ gemacht hat (was ich insbesondere in der IT oft erlebt habe). Solche Entscheidungen können teure Fehlentscheidungen sein.

Hierfür wollen wir sensibilisieren und das nötige Handwerkszeug bereitstellen.

Tim: Wer und wie kann man Mitglied werden und warum sollte man dies?

Jessica:  Wir sind Wissenschaft und Praxis. Unsere Mitglieder kommen aus dem universitären Kontext, aus kleinen Unternehmen, dem Mittelstand und aus Konzernen. Jeder, der Interesse an guter Personalauswahl hat, kann bei uns Mitglied werden und sich einbringen. Wir arbeiten gerade an einer Homepage, zukünftig wird man dort auch den Mitgliedantrag finden. Übergangsweise haben wir hier einen eigenen Webauftritt. Bis das soweit ist, wendet man sich einfach an mich. Am Besten über meine Mailadresse j.lingenfelder[at]htgf.de

Tim: Eine Abschlussfrage: Lass uns mal ein kleines Gedankenspiel machen. Angenommen, die recruitingrebels werden ein voller Erfolg und bekommen breiten Zulauf. Wie würde das Recruiting in 2025 aussehen und sich vom heutigen Recruiting unterscheiden durch euren Einfluss?

Jessica:  Spannende Frage. Wir möchten, dass jeder, der eine Stelle (egal ob intern oder extern) besetzen möchte sich vorher fragt, was der Mensch, der diesen Job machen soll eigentlich wirklich mitbringen muss – und wie man herausfindet, ob jemand die benötigten fachlichen und persönlichen Ressourcen mitbringt. Damit ist dem Unternehmen wie auch den Kandidatinnen und Kandidaten gedient.

Die Aufgaben, der Mensch mit seinen Qualifikationen und Persönlichkeitsmerkmalen und das Unternehmen – um erfolgreich zu sein und zufriedene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu haben, müssen diese drei Faktoren zusammenpassen.

Wenn Unternehmen einsehen, dass sie das nur mit vernünftigen Verfahren und Tools realisieren können und nicht mehr einzelne Menschen blind (nur) auf ihr Bauchgefühl vertrauen, dann ist ein großer Schritt getan.

Tim: Vielen Dank, Jessica für deine Zeit.